Der V-Effekt
über Oliver van den Bergs „V1-Projekt“

I.
Kindheitserinnerungen: Meine ersten Raketen sah ich Mitte der 60er Jahre, als man anläßlich des Besuches der englischen Köni- gin Elisabeth II. in Hannover ein barockes Feuerwerk inszenierte. Ich wurde dazu extra von meinen Eltern geweckt und konnte gleich vom Kinderzimmerfenster aus dem Spektakel beiwohnen.
Später dann prägte sich mir natürlich das – angeblich simu- lierte – Medienereignis Mondlandung 1969 ein. Die Apollo 11-As- tronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin hißten die amerika- nische Flagge auf dem „oldest tv“, wie Nam June Paik die mediale Qualität des Mondes einmal beschrieb (ein disperses Publikum nimmt in „einwegiger Kommunikation“ eine sich verändernde Lichtquelle wahr). Erstmals hörte ich in dem Zusammenhang der Mondlandung übrigens den Namen von Wernher von Braun, der bekanntlich zu nationalsozialistischen Zeiten mit der Arbeit an den V-Raketen beschäftigt war.
In der Schule dann: Sirenenalarm. Im „Kalten Krieg“ wurde halt auch das Abwehrverhalten beim feindlichen Angriff aus der Luft geübt. Das Spektrum von möglicher Wahrnehmung und de- ren Erinnerung reichte schon damals also von naiver Unmittelbar- keit bis hin zum medial konstruierten Event.
II.

(Re)Konstruierte Erinnerung: In den 90er Jahren gerieten plötzlich die späten 60er Jahre und vor allem die frühen 70er Jahre in das Blickfeld des ästhetischen Interesses. Die Raumfahrt war damals zunächst durch Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Welt- raum“ (1968) präsent. Dann kam David Bowie mit seinem „Ziggy Stardust“ (1972). Und natürlich war auch durch das Design und die Architektur der Zeit die Faszination des „Aufbruchs zu neu- en Welten“ allgegenwärtig. Kaum kann ich – geboren Anfang der 60er Jahre – mich deutlich daran erinnern, aber glaubt man der Li- teratur, dann waren damals nicht nur Schlaghosen, Flokati und Op Art angesagt, sondern auch modulartige architektonische Elemente in Kapselform, die bewußt auf die utopischen Verheißungen der Raumfahrt anspielten. Joe Colomba, Verner Panton und Tausend- sassa Colani u.a. schufen so futuristische Lebenswelten, zu deren Ahnherren auch die britische Architektengruppe Archigram zählte. Diese schrieb bereits 1964 in ihrem Magazin Archigram 4: „Die po- sitive Kraft, die von der Rakete (der wirklichen, wie der gezeichne- ten), von den Entwürfen der Futuristen und von der Weltraumstadt gleichermaßen ausgeht, liegt darin, daß hier alles bis zum Äußer- sten getrieben wird.“
Beeinflußt wurde Archigram erklärtermaßen weniger von der real-existierenden Raumfahrt, als vielmehr durch die Welt des Comic und durch Bruno Tauts „Alpine Architektur“ (ebenda).
III.
Auch Oliver van den Bergs künstlerisches „V 1-Projekt“ spielt sich in dem Dreieck von Erinnerung, Konstruktion und (medialer) Rea- lität ab. Neben u.a. einer intensiven Recherche rund um das Thema steht im Zentrum des Projektes folgende Strategie: Der Künstler ließ sich in London von Bürgern der Themsestadt Skizzen anfer- tigen, die zeigen, wie die Befragten sich die V1-Raketen vorstellen bzw. wie sie sich an diese nach dem mörderischen Bombardement ihrer Stadt im 2. Weltkrieg erinnern. Später dann nutzt Oliver van den Berg diese ephemeren Skizzen als alles andere als präzise Kon- struktionszeichnung für seine Skulpturen. Aus Holz nämlich baute er, mit zusätzlichem „Fachwissen“ gewappnet, die imaginierten V1- Raketen nach. So gibt er nicht nur zugunsten einer kollektiven Au- torenschaft künstlerische Autonomie auf, sondern es gelingt ihm zudem ein intelligentes Changieren von Fiktion und deren Mate-
rialisierung, von konkreten Verfremdungseffekten und Unschärfe- relationen – die der Erinnerungen und die, die aus deren „Über- setzungen“ resultieren – und von eindeutiger ästhetischer Form, in Gang zu setzen.
Diese künstlerische Strategie steht gleichsam auf zwei, scheinbar antipodischen „Startrampen“: einerseits auf der des Ver- gnügens, das einem das Kinderspiel „Stille Post“ bereitet und ande- rerseits auf der der Tradition einer mit wissenschaftlicher Akribie betriebenen „oral history“. Die so realisierten Raketenkörper wer- den plötzlich beinahe zum Porträt.
Zum Porträt derer, die die Erinnerungs- und Imaginations- arbeiten leisteten, aber auch zum Porträt des Künstlers, der ange- sichts des Phänomen V-Rakete so fasziniert wie abgeschreckt ist.
IV.
Da bekommt der Romanheld Slothrop in Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ (1973) vor dem zerstörerischen Einschlag der V- Raketen in Londons Stadtgebiete regelmäßig einen „Ständer“ – lite- rarische Fiktion, die wohl so real und psychologisch pawlov-diffizil ist, wie sie sich selbst aus signifikanter Fiktion, genauer aus Litera- turgeschichte speist: In James Joyces „Ulysses“ (1922) etwa genießt der Ich-Erzähler angesichts des Lichtspiels einiger FeuerwerksRA-
KETEN am nächtlichen Himmel ebenfalls einen lustvollen Samen- erguß.
Wir sehen erneut: Die (ästhetische) Konstruktion von Welt speist sich stets verschiedenster „Quellen“: (mündlicher) Erzählung wie konkreter Erfahrung z.B. (schriftlicher) Nacherzählung, genau- so wie mentaler und medialer Erinnerung.
V.
Die Rakete wird genutzt zum glamurösen Feuerwerk – laut Theo- dor W. Adorno ein Bild für das Wesen der Kunst –, zur prestige- trächtigen Weltraumfahrt und als verheerende Massenvernich- tungswaffe – das Äußerste scheint tatsächlich ihr Charakteristi- kum zu sein. Genauso wie das Pendeln zwischen den Gegensätzen Freude und Grauen, utopische Hoffnung und sicheren Tod. In den „Tausend Plateaus“ (1980) notieren Gilles Deleuze/Felix Gu- attari: „Denn gerade wenn die Kriegsmaschine nur noch den Krieg zum Gegenstand hat und die Mutation durch Destruktion ersetzt, bekommt sie die größtmögliche katastrophische Wucht.“ Wohl- gemerkt: Deleuze/Guattari setzen die „Kriegsmaschinen“ nicht gleich mit zerstörerischem Krieg, sehen ihre Wurzeln stattdessen vielmehr in den oben von ihnen angesprochenen „Mutationen“, die eben in erster Linie emanzipative Kraft besitzen: „Die Mutationen gehen auf diese Maschine zurück, deren Gegenstand ganz sicher nicht der Krieg ist, sondern die Aussendung von Deterritorialisie- rungsquanten und der Durchlauf von mutierenden Quanten (in diesem Sinne läuft jede Schöpfung über eine Kriegsmaschine)“.
Auch hier also die Spannung von Tod und Schöpfung. De- struktion bleibt immer dann, „wenn die Kriegsmaschine ihre Ver- änderungskraft verloren hat“. Und genau dies passiert, sobald sie „entweder vom Staatsapparat angeeignet wird, oder, schlimmer noch, einen Staatsapparat geschaffen hat, der nur noch der Zerstö- rung dient“. Der V-Effekt?
Raimar Stange
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The V-effect?On Oliver van den Bergs “V 1-Project”
I.
Childhood memories: I saw my first rockets at a baroque fireworks display in honour of Queen Elisabeth II’s visit to Hanover in the mid sixties. My parents woke me up specially, and I watched the spectacle from my bedroom window.
Later, of course, the media coverage of the – allegedly simula- ted – moon landing in 1969 left an impression on me. The Apollo 11 astronauts Neil Armstrong and Edwin Aldrin hoisted the Ame- rican flag on the “oldest tv”, as Nam June Paik once described the mediumistic quality of the moon (a widespread spectatorship be- holding a changing light source in “one-way communication”. It was in association with the moon landing that I first heard about Wernher von Braun, well known for his work on V-rocket technolo- gy during the Nazi era.
Later, at school: the air-raid sirens. Defence systems were te- sted during the “cold war”, in case of aerial attack by the enemy. Even back then, the spectrum of possible awareness and the me- mory of it ranged from a naive wonderment all the way to a media- contrived event.
II.
(Re)constructed memory: the 90s saw a sudden aesthetic reapprai- sal of the late 60s and particularly the early 70s. Stanley Kubrick’s “2001 – A Space Odyssey” (1968) ensured that space travel beca- me a contemporary theme. Then there was David Bowie’s “Ziggy Stardust” (1972). The fascination of a “departure into new worlds” was omnipresent also in the design and architecture of the time. Although I can hardly remember it – having been born at the be- ginning of the 60s – if one were to believe the literature, then not only flares, Animal skin rugs and Op Art were in demand, but al- so module-like architectonic elements in capsular forms that con- sciously alluded to the utopian promise of space travel.
Joe Colomba, Verner Panton and the multi-talented Cola- ni, amongst others, created futuristic living environments with unmistakable reference to the British architectural group Archi- gram. As early as 1964, this group had described in their magazine
Archigram 4: “The positive energy associated with rockets and with the concept of cities in space (whether real or sketched) in the de- signs of the futurists results from the fact that everything is taken to extremes.” By their own admission, Archigram were influenced less by the reality of space travel than by comics and Bruno Taut’s “Alpine Architecture”.
III.
Oliver van den Berg’s “V 1-Project” is also situated within the tri- angular parameters of memory, construction and (media) reality. Besides intensive research into all facets of the topic, the project is based on the following strategy: the artist asked residents of London to draw sketches of how they imagined the V1-rockets, or of how th- ey remembered them from the dreadful bombardment of their city during the Second World War. Oliver van den Berg then used these sketches as an – anything other than precise – design basis for his sculptures. Armed with a supplementary “specialist knowledge”, he built wooden representations of these imaginary V1-rockets. Not only does he surrender his artistic autonomy in favour of collective authorship in this way, but also effects the initiation of an intelli- gent interplay between a fiction and the physical manifestation of this fiction, between concrete distancisation effects and blurring – of memories and of their resulting “representation” – and a clear aesthetic form.
This artistic strategy rests, as it were, on two seemingly op- posite “launching pads”: on one hand, on pleasure, which recalls the children’s “Chinese Whispers” game; on the other hand, on the tradition of an “oral history” that is pursued with scientific meticu- lousness. In this way, the rockets produced act as portraits: of those who contributed with their memories and fantasies, but also of the artist himself, just as fascinated as he is abhorred by the V-rocket phenomenon.
IV.
Slothrop, the hero of Thomas Pynchon’s “Gravity’s rainbow” (1973) regularly gets an “erection” prior to the devastating V-rocket attacks on London – a literary fiction that’s probably as realistic and psy- chologically complex (Pavlov) as it is based in major fiction, more exactly in literary history: In James Joyce’s “Ulysses” (1922), for instance, the narrator is similarly overcome by a bout of lusty eja- culation, brought on by the spectacle of firework ROCKETS in the night sky. Here again: the (aesthetic) construction of the world is a product of diverse “sources”: (oral) narration as well as concrete ex- perience, for instance, or (written) retelling just as much as mental or mediated recollection.
V.
Rockets are used for glamorous firework displays – an image of the essence of art, according to Theodor W. Adorno – for the prestige of space travel, and as devastating weapons of mass destruction: the extreme really does seem to be the main characteristic of the rocket. Just like swaying between the opposites of rapture and hor- ror, utopian hope and certain death. In their “Thousand Plateaux” (1980), Gilles Deleuze and Felix Guattari note: “Particularly when the war-machine has only war as its objective, and substitutes mu- tation with destruction, will it gain its greatest possible catastrophic might”. Noteworthy is that Deleuze/Guattari stop short of equating the “war-machine” with devastating war, but rather consider it to be rooted in the “mutations” they mention above, which, above all else, display an emancipating energy: “The mutations relate to this machine, whose objective is certainly not war, rather the transmis- sion of anti-territorial quantums and the scrutiny of mutating quan- tums (in this sense, every creation depends on a war-machine).”Here too, then, there is a tension between death and creation, and destruction is the result “when the war-machine loses its ability to bring about change.” This is precisely what happens when the war machine “is either appropriated by the state-machine or, worse still, when it creates a state-machine that has destruction as its only pur- pose.” The V-Effect?

Raimar Stange