In der Maschine steckt der Mensch
Reflexion der Gesellschaft mittels ihrer Geräte: Oliver van den Berg
Ein Gedränge aus Standkameras, Teleskopen und anderen Bildfindungs- oder –reproduktionsgeräten verdichtet sich in der Ausstellung „Made in Germany“ im Kunstverein Hannover zu einem fast organisch anmutenden Geflecht, das auch an eine Versammlung langbeiniger Insektenwesen denken lässt. Der Bildhauer Oliver van den Berg hat für die im Mai eröffnete Bestandsaufnahme aktueller, in Deutschland produzierter Kunst ein paar Dutzend verschiedene kameraartige Gebilde aus Holz geschaffen und zu einem Stilleben der geballten Wahrnehmung zusammengestellt. Wie bei einer Pressekonferenz mit hohem Medienaufkommen suggeriert das heterogene Geräte-Ensemble einen Kristallisationspunkt höchster Aufmerksamkeit. Neben Filmkameras unterschiedlichster Machart gehören dazu etwa auch eine hoch auflösende Stereokamera, die im „wirklichen Leben“ zur Kartierung der Marsoberfläche Verwendung findet, und viele weitere, teils ziemlich exotisch anmutende Nachempfindungen und Neuerfindungen, die der Künstler auf der Basis realer Vorbilder entwickelt hat.
Die Objektive der optischen Instrumente, teils mit, teils ohne Sichtöffnung gestaltet, sind auf die Betrachter gerichtet: Beobachtung der Beobachtung, Perzeption der Perzeption. Die Rezipienten werden von der Kunst ebenso ins Visier genommen wie sie umgekehrt ihren Blick auf die Kunst richten - ganz im Sinne der (selbst-)reflexiven Werke des Schweizer Malers Rémy Zaugg, die in stiller Beredsamkeit zum Nachdenken über das Schauen und über das Konstituieren von Kunst durch selbiges anregen: „ICH, DAS BILD, SEHE DICH“. Oliver van den Berg, 1967 in Essen geboren und seit etlichen Jahren in Berlin ansässig, lässt in seiner jüngsten Arbeit für Hannover gezielt mehrere Spannungsmomente ineinander greifen. Die Geräte visuellen Erfassens, die der Künstler in den Raum des Kunstvereins gestellt hat, verkörpern zugleich eine paradoxe Simultanität von High- und Low-Tech-Ästhetik, das progressive Moment „fortschrittlichen“ Designs und das nostalgische einer zur „Vintage“-Ausführung mutierten technischen Vision von einst, das Zusammenspiel von Tradition und Utopie.
Zum anderen vermitteln sie die Vielfalt beziehungsweise Individualität innerhalb eines Kollektivs, einer (üblicherweise industriell gefertigten) Serie. Dabei thematisieren sie zudem den Kontrast zwischen „naturgetreuer“ Rekonstruktion und künstlerischer Abstraktion, der sich nicht zuletzt in der Wahl des Materials Holz für die Umsetzung technoider Formen manifestiert. Schließlich bringt van den Berg hier mit subtilem Witz gerade solche Gerätschaften zur Anschauung, die im Alltagsleben eben der gesteigerten Fokussierung, Visualisierung und optischen Erfassung dienen und kommentiert damit implizit die Tatsache, dass wir unsere Vorstellungen von der Welt generell den medialen Hilfsmitteln der Bildgenerierung verdanken.
Dieser Umgang mit Paradoxien auf mehreren Ebenen ist den skulpturalen Aneignungen und Neuinterpretationen des Künstlers bestehender Phänomene aus den diversen Gebieten der Technik, der Raum- und Luftfahrt ebenso wie der Kriegsführung, grundsätzlich eigen. Dabei interessiert sich van den Berg um die weiterreichenden Mechanismen, die dem technischen Vehikel eingeschrieben sind. Dessen spezifische Erscheinungsformen sind für ihn ebenso relevant wie dessen kollektive Bedeutung, auch in der Funktion als Erinnerungs- oder Wissensspeicher. „Es geht nicht um die Technik als solches“, sagt der Künstler. „Sondern um den gesellschaftlichen Zustand der Zeit, um die ‚Ist’-Zustände.“ In letzteren, glaubt er, offenbaren sich auch die Visionen von gestern: Im gegenwärtigen Zustand lassen sich diese für ihn am ehesten rückblickend ablesen, inklusive deren Scheitern. „Geräte“, so van den Berg, „bilden Verfahrensweisen des Wissens und der Wissenschaft ab, also Denkstrukturen, die vom Menschen vorgegeben sind.“ Dieses Wissen stecke gewissermaßen im „Körper“ der Geräte, die somit immer auch ein Spiegel des Menschen seien.
Skizze, Prototyp, Modell, Versuchsaufbau: Van den Berg greift in seinem konzeptuell unterfütterten skulpturalen Schaffen selbst auf Methoden zurück, die der wissenschaftlichen Forschung entspringen. Mehrfach hat sich der Künstler mit Flugkörpern, Satelliten- oder Radarkonstruktionen befasst, wobei das Spektrum von rudimentär zusammen gezimmerten Raketenumrissen über den Entwurf für ein „Einatom-U-Boot“ (1996) und den Radarschirm „ICO“ (1999) zur Ermittlung der Kulminationslinie „größter Vergangenheit und Zukunft“ bis hin zu künstlerischen Rekonstruktionen der V1-(„Vergeltungswaffe 1“-) Rakete der Nationalsozialisten nach in Auftrag gegebenen, aus der Erinnerung gezeichneten Skizzen von Londoner Bürgern reicht. In diesem Projekt mit dem Titel „Vn“ (1999), aus dem unter anderem auch die Arbeit „ICO“ hervorging, produzierte der Künstler nach den oft recht vagen Erinnerungsskizzen präzise „Windkanalmodelle“ aus Holz, in denen sehr divergierende und auch absurde Varianten der ursprünglichen V1-Form zur Anschauung kamen: eine Art „Stille Post“ in dreidimensionaler Gestalt.
In seiner Beschäftigung mit der V1, die sich in mehreren „verästelten“ und ineinander greifenden Werksträngen niederschlug, ließ sich van den Berg auf ein komplexes, historisch aufgeladenes Terrain ein. Wobei es ihm tatsächlich nicht vorrangig um eine Thematisierung gesellschaftspolitischer Inhalte oder – mit Blick auf die verheerende, im Zweiten Weltkrieg gezielt von deutscher Seite gegen England und Belgien gerichtete Fernlenkbombe und Vorläuferin der Cruise Missile – ethischer Fragestellungen im engeren Sinne ging. Vielmehr stand unter anderem die durchaus unheimliche Idee einer vom Menschen gesteuerten, aber sich eigendynamisch von diesem lösenden Apparat im Fokus des Künstlers, gepaart mit einer Bezugnahme auf das von vielen Unschärfen und unauflösbaren Assoziationsketten geprägte narrative Netzwerk von Thomas Pynchons berühmtem Roman „Gravity’s Rainbow“ aus dem Jahr 1973, in dem die deutsche V2-Rakete wiederum eine zentrale, wenn auch höchst undurchsichtige Rolle spielt – nicht minder mysteriös als die oder das geheimnisvolle „V“ in Pynchons gleichnamigem Roman von 1963. In diesen und auch anderen Werken des amerikanischen Kultschriftstellers, der sich vor langem aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat und seitdem nie wieder sichtbar geworden ist, „hängt alles mit allem zusammen“, wie van den Berg feststellt. Eine Situation, die er auf eigene Weise in seiner Kunst vermittelt.
Oliver van den Berg hat „Gravity’s Rainbow“ Anfang der 1990er-Jahre gelesen. Da war er noch an der Hochschule der Künste Berlin eingeschrieben (heute UdK), an die ihn der „Kritische Realist“ Wolfgang Petrick geholt hatte. Hier studierte van den Berg zwischen 1988 und 1994, zuletzt als Meisterschüler, allerdings mit viel künstlerischer Autonomität und Selbstinitiative. Sein ursprüngliches Metier einer postsurrealen Malerei, mit der er an der Hochschule aufgenommen worden war, hatte er bereits nach den ersten Semestern aufgegeben. „Die Malerei“, rekapituliert van den Berg, geprägt seinerzeit wie viele seiner Altersgenossen von einer grundsätzlich skeptischen „No Future“-Stimmung, „war damals relativ im Auslaufen begriffen. Es ging insgesamt weg vom persönlichen Geschehen. Als Gegenbewegung zur Malerei der achtziger Jahre machte man sich Gedanken darüber, was man tat und ließ nicht nur das Innere raus.“ So verlegte er sich auf die Bildhauerei und erarbeitete sich, von Hinweisen hilfreicher Werkstattsleiter unterstützt, ein neues, dreidimensionales Gebiet. Aus Experimenten mit dem Prinzip des Seriellen und „Formen der Anhäufung“ – van den Berg nennt unter anderem als inspirative Einflüsse Arbeiten von Allan McCollum oder Katharina Fritsch, in denen Gegenstände des Alltags und der Warenwelt zum Zuge kamen – erwuchs die Hinwendung zu Reproduktionsverfahren, die er zunächst auf dem Wege von Alu- und Betongüssen untersuchte.
Zu Beginn der 1990er-Jahre kam dann die Beschäftigung mit den Verbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft, Philosophie und den gesellschaftlichen Zuständen hinzu, die den interdisziplinären Boden für seine bis heute andauernden Befragungen unserer technischen Welten und „Errungenschaften“ bereitete. Seine künstlerische Haltung folgte damals wie heute einer „abstrakteren Sicht, einer Satellitensicht auf das Dasein, wo es nicht um persönliche Empfindungen geht“. Längerfristig angelegte Projekte wie das V1-Konvolut, das „in eine komplexe Geschichte eingebunden“ ist und aus skulpturalen, textlichen und filmischen „Produkten“ besteht, wechseln immer wieder mit Einzelarbeiten, wie seine Gruppe von silhouettenhaften Sperrholz-Raketen („Raketennamen“, 2004), versehen mit Bezeichnungen wie „Erika“ oder „Veronique“. Ein besonderes Augenmerk des Künstlers gilt der Einheit von Mensch und Maschine oder, besser gesagt, Mensch und Technik. „Die Verknüpfung von Person und Gerät“, hat er beobachtet, „ist besonders eklatant bei Waffen oder etwa Jagdfliegern.“
In „Spielhölle I“ (2003) hat sich van den Berg die gezackte grafische Darstellung von Stromspannung, die er als Logo in einem Spielsalon vorfand, auf Aluminiumblech übertragen und daraus einen kronenartigen, mit seinen bunten Abstufungen an die steilen Höhen und abstürzenden Talfahrten einer Aktienkurve erinnernden Rundbogen geschaffen, der der Idee des Strom- und Geldkreislaufs eine haptische Form verleiht, die beides ist: konkret und abstrakt zugleich. Ein spektakulärer Vorläufer der in Hannover gebündelten „Kameras“ von 2007 wiederum ist der aus hellem Birkenschichtholz bestehende „Sternenprojektor“, den van den Berg 2005 für die Gruppenausstellung „Rückkehr ins All“ in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle gestaltete. Konstruiert nach dem gleichnamigen Apparat, der in Großplanetarien für die Projektion eines naturgetreuen, steuerbaren Sternenhimmels dient, kehrt diese Skulptur des Künstlers die ursprüngliche Funktionsweise des Projektors um: Statt von innen nach außen fällt das Licht (und der Betrachterblick) durch filigrane Öffnungen und Gitterstrukturen in den von ausdrucksvollen Ein- und Ausbuchtungen charakterisierten, nunmehr zum Hohlkörper mutierten, funktionsfreien Apparat. Auch hier ist wieder die Vorstellung für van den Berg ein wesentlicher Punkt, dass im technischen Gerät das menschliche Wissen eingeformt ist, „auch wenn man die Technik herausnimmt“.
Die Skulptur repräsentiert die Kapazität des Projektors, als Speichermedium zu fungieren, das das Wissen über den Sternenhimmel birgt und abbilden kann. „Ich will nicht das Universum in den Blick rücken, sondern das Gerät, dass das Universum birgt oder darstellt“, erläutert der Künstler. Damit ergibt sich auch eine Parallele zu seinem aus farbig lackiertem Holz gearbeiteten Flugschreiber mit dem vieldeutigen Titel „Blind Passenger“ (2004), der jeden Zugang verweigert und als „Black Box“ in jeder Hinsicht sein Geheimnis wahrt. In formaler Hinsicht, sozusagen vom Bühnenaufbau her, geht Oliver van den Bergs „Kameras“ zudem ein veritabler Wald hölzerner Mikrofone auf hohen Stativen voraus (Das Arrangement „Mikros“ war 2006 erstmals in der Berliner Galerie des Künstlers, Kuckei + Kuckei, zu besichtigen).
Weit über hundert „Mikro“-Exemplare produzierte der Künstler – jedes ist ein Einzelstück. Die auf einen Punkt hin gerichteten, wie hochgewachsene Vögel nach vorn gereckten Objekte, halb technoid, halb „wesenhaft“, wie van den Berg die seltsame Lebendigkeit seiner „Mikro“-Geschöpfe umschreibt, bringen die Idee der Technik als Spiegel sowie Ausläufer (gelegentlich auch als Auswuchs) menschlicher Kultur und Existenz geballt zum Ausdruck. Allen seinen skulpturalen Gestaltgebungen technischen Ursprungs ist die „völlige Verfremdung“ ebenso so eigen wie die Tatsache, dass es sich dabei nicht um eine „Neuerfindung als Form“ handelt: „eine Gradwanderung“, auf die sich Oliver van den Berg immer wieder aufs Neue begibt. Wesentlich bleibt in diesem Prozess das Modellhafte seiner Kunst, die der „Spiegelfunktion des Gerätes“ als Gestalt annehmende „gesellschaftliche Äußerung“ einen zweiten, mehrfach gebrochenen Spiegel vorhält – ein erweitertes Bild, eine zusätzliche Reflexion.
Belinda Grace Gardner